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Rein
begriffsgeschichtlich gesehen, scheint die «Zuneigung» oder «Liebe» (ai) in China auf den ersten Blick ein
äußerst flatterhaftes Konzept gewesen zu sein. Schon Angus Charles Graham
(1919-1991) wies in seinem Klassiker Disputers
of the Tao (1989) zu Recht darauf hin, dass der Übersetzungsbegriff «Liebe»
das Gemeinte zumindest in mohistischen Schriften nicht richtig trifft, da hier
eher ein sachliches Interesse am Wohlergehen von Mitmenschen gemeint sei, das
Graham in dem berühmten mohistischen Slogan jian
ai mit «Concern for Everyone» übersetzt. Mit Blick auf andere Verwendungen
des Wortes ai in der altchinesischen
Literatur würde ich sogar noch weiter gehen und behaupten, dass es zumindest in
politisch-philosophischen Schriften die Tugend der Sparsamkeit (wie auch
negativ konnotiert die Untugend des Geizes) impliziert und daher die Hege oder
Schonung von Ressourcen meint, in der oben erwähnten Kollokation eben die
Schonung der Ressource Mensch, d.h. «allseitige Schonung». Vor diesem
Hintergrund erscheint es als Ironie der Begriffs- wie auch Religionsgeschichte,
dass Jesuitenmissionare und in deren Gefolge auch chinesische Konvertiten des
17. Jahrhunderts dem Ausdruck jian ai
die christliche Tugend der Nächstenliebe als Lehnbedeutung unterschoben. Wie
aber sind überdies die sexuelle Begierde, das Wohlwollen und die Wertschätzung
im konzeptuellen Netz von ai
untergebracht? Ausgehend von ausgewählten Belegstellen und mit Rückgriff auf
neuere Modelle des Bedeutungswandels sowie sino-tibetische Etymologien, möchte
ich nicht nur das Bedeutungsspektrum des Wortes auffächern, sondern auch eine
These zu seinem Bedeutungswandel vorstellen.
Christian Schwermann
Eine Veranstaltung des Ostasiatischen Seminars in Kooperation mit dem UFSP Asien und Europa.